Genetik
Genetik ist die Wissenschaft von der
Vererbung, der Weitergabe von Merkmalen in Biochemie, Koerperbau und Verhalten
von Eltern auf ihre Nachkommen. Der Begriff wurde 1906 von dem britischen
Biologen William Bateson gepraegt. Genetiker untersuchen die
Vererbungsmechanismen, die dafuer verantwortlich sind, dass Nachkommen bei
sexueller Fortpflanzung nicht genau ihren Eltern gleichen, obwohl Unterschiede
und aehnlichkeiten von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die
Erforschung dieser Gesetzmaeßigkeiten fuehrte zu einigen der interessantesten
Entdeckungen der modernen Biologie.
Die Entstehung der Genetik
Die Wissenschaft der Genetik geht auf das
Jahr 1900 zurueck. Damals wurden einige Pflanzenzuechter unabhaengig voneinander
auf die Arbeiten des oesterreichischen Botanikers Gregor Mendel aufmerksam, die
schon 1866 veroeffentlicht worden waren, ohne dass man jedoch ihre Bedeutung
erkannt hatte. Mendel hatte sich mit Gartenerbsen beschaeftigt und die
Gesetzmaeßigkeiten der Vererbung anhand von sieben Paaren gegensaetzlicher
Merkmale beschrieben, die bei verschiedenen Varianten der Erbsenpflanzen
auftraten. Er beobachtete, dass die Merkmale als getrennte, voneinander
unabhaengige Einheiten vererbt werden. Er zog daraus den Schluss, dass jedes
Elternteil Eigenschaftspaare besitzt, wobei jeweils nur eine dieser beiden
Eigenschaften auf die Nachkommen weitergegeben wird. Diesen Einheiten, die
Mendel beschrieb, gab man spaeter den Namen Gene.
Die stoffliche Grundlage der Vererbung
Schon bald nach der Wiederentdeckung der
Mendel’schen Gesetze erkannte man, dass die von Mendel beschriebenen
Vererbungsprinzipien eine Parallele im Verhalten der Chromosomen waehrend der
Zellteilung aufweisen. Daraus entstand die Vermutung, Mendels Erbeinheiten, die
Gene, befaenden sich in den Chromosomen. Die Folge war, dass man sich eingehend
mit der Zellteilung beschaeftigte.
Jede Zelle entsteht durch die Teilung einer
bereits vorhandenen Zelle. Alle Zellen eines Menschen gehen z. B. aus
vielen aufeinander folgenden Teilungen einer einzigen Zelle hervor, naemlich der
Zygote, die durch die Vereinigung von Ei- und Samenzelle entsteht. Die Zellen,
die sich durch die Teilungen der Zygote bilden, sind untereinander, was den
Aufbau des genetischen Materials angeht, in ihrer großen Mehrzahl voellig
gleich, und ebenso gleichen sie der Zygote (vorausgesetzt, es finden keine
Mutationen statt; siehe unten). Jede Zelle eines hoeheren Lebewesens besteht aus
einer geleeartigen Masse, dem Cytoplasma, in das verschiedene kleinere
Strukturen eingelagert sind. Dieses Cytoplasmamaterial umschließt einen
groeßeren Koerper, den Zellkern, der eine bestimmte Anzahl kleiner, fadenartiger
Chromosomen enthaelt. Einfacher gebaute Lebewesen wie Bakterien haben keinen
Zellkern, sondern ihr einziges Chromosom liegt frei im Cytoplasma.
Chromosomen unterscheiden sich in Groeße und
Form und kommen gewoehnlich paarweise vor. Die beiden Chromosomen eines solchen
Paares, homologe Chromosomen genannt, sehen sich sehr aehnlich. Fast alle
Zellen des menschlichen Koerpers enthalten jeweils 23 solche Chromosomenpaare,
bei der Essigfliege Drosophila sind es vier Paare, und das Bakterium Escherichia
coli besitzt ein einziges, ringfoermiges Chromosom. Wie man heute weiß,
liegen in jedem Chromosom viele Gene, von denen jedes einen ganz bestimmten
Platz (Locus) einnimmt.
Den Vorgang der Zellteilung, durch den eine
neue Zelle mit derselben Chromosomenzahl wie in der Ausgangszelle entsteht,
nennt man Mitose. Bei der Mitose spaltet sich jedes Chromosom in zwei
gleiche Teile, die zu entgegengesetzten Enden der Zelle wandern. Nach der
Zellteilung hat dann jede der beiden Tochterzellen dieselbe Zahl von
Chromosomen und Genen wie die urspruengliche Zelle. Alle Zellen, die durch
diesen Vorgang entstehen, weisen also dasselbe genetische Material auf. Durch Mitose
vermehren sich die einfach gebauten Einzeller und manche vielzelligen Arten;
außerdem ist dies der Vorgang, durch den kompliziertere Lebewesen wachsen und
verbrauchtes Gewebe ersetzen.
Hoehere Organismen, die sich sexuell
fortpflanzen, entstehen durch die Vereinigung zweier besonderer
Geschlechtszellen, der Keimzellen oder Gameten. Diese werden in der Meiose
gebildet, dem Teilungsvorgang der Keimzellen. Sie unterscheidet sich vor allem
in einem wichtigen Punkt von der Mitose: In der Meiose wird nur ein Chromosom
eines jeden Paares aus der urspruenglichen Zelle an die Tochterzellen
weitergegeben. Die Gameten enthalten also jeweils nur halb so viele Chromosomen
wie die uebrigen Koerperzellen. Wenn sich vaeterliche und muetterliche Gamete bei
der Befruchtung vereinigen, erhaelt die dabei entstehende Zelle (Zygote) wieder
den vollstaendigen, doppelten Chromosomensatz. In der Regel stammt somit von
jedem Elternteil eine Haelfte des genetischen Materials.
Die Weitergabe der Gene
Durch die Vereinigung der Gameten kommen
zwei Gensaetze zusammen, die von den beiden Eltern stammen. Jedes Gen –
d. h. jede abgegrenzte Stelle auf einem Chromosom, die ein bestimmtes
Merkmal beeinflusst – liegt also in zwei Exemplaren vor – eines stammt von der
Mutter und das andere vom Vater (Ausnahmen von dieser Regel werden im Abschnitt
ueber Geschlecht und Geschlechtskopplung beschrieben; siehe unten). Diese beiden
Gene liegen in den Chromosomenpaaren der Zygote jeweils an der gleichen Stelle.
Sind die beiden Genkopien genau gleich, bezeichnet man das Lebewesen als homozygot
fuer dieses Gen. Wenn sie sich aber unterscheiden, d. h. wenn jeder
Elternteil eine andere Variante (Allel) des gleichen Gens zur Verfuegung
gestellt hat, nennt man den Organismus heterozygot. Im genetischen
Material eines Lebewesens sind beide Allele vorhanden, aber wenn eines davon
dominant ist, praegt sich das andere nicht aus. Wie jedoch bereits Mendel
nachwies, kann dieses zweite, rezessive Merkmal in spaeteren Generationen wieder
zum Vorschein kommen (naemlich bei Individuen, die fuer dieses Allel homozygot
sind).
Ein Beispiel ist die Faehigkeit, Pigmente in
Haut, Haaren und Augen zu bilden; sie ist abhaengig von einem bestimmten Allel (A),
und ihr Fehlen, Albinismus genannt, entsteht durch ein anderes Allel (a)
des gleichen Gens. (Der uebersichtlichkeit halber bezeichnet man Allele oft mit
einem einzelnen Buchstaben; dominante Allele werden dabei groß, rezessive klein
geschrieben.) A ist in seiner Wirkung dominant, a ist rezessiv.
Deshalb haben heterozygote Menschen (Aa) ebenso wie homozygote (AA)
fuer das Pigmentierungsallel eine normale Haut- und Haarfarbe. Wer jedoch fuer
das Allel, das zum Fehlen des Pigments fuehrt, homozygot ist (aa), wird
zum Albino. Bei zwei heterozygoten Eltern (Aa) besteht fuer jedes Kind
eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent, homozygot AA zu sein. Die
Wahrscheinlichkeit fuer den heterozygoten Zustand Aa betraegt
50 Prozent, und fuer die homozygote Kombination aa ist sie wiederum
25 Prozent. Nur Personen mit der Allelkombination aa sind Albinos.
Fuer jedes Kind besteht also eine Chance von 25 Prozent, vom Albinismus
betroffen zu sein. Das heißt aber nicht unbedingt, dass in einer solchen
Familie ein Viertel der Kinder Albinos sind. Im genetischen Material der
heterozygoten Nachkommen werden beide Allele weitergetragen; die Gameten dieser
Personen tragen jeweils eines der beiden Allele. Man unterscheidet zwischen der
aeußerlichen Erscheinung eines Lebewesens und den Genen bzw. Allelen, die es in
sich traegt. Die beobachtbaren Eigenschaften machen den Phaenotyp eines
Lebewesens aus, die genetische Ausstattung bildet den Genotyp.
Nicht immer ist ein Allel dominant und das
andere rezessiv. Die Wunderblume kann z. B. rote, weiße oder rosafarbene
Blueten haben. Pflanzen mit roten Blueten besitzen zwei Exemplare des Allels R
fuer die rote Bluetenfarbe, d. h., sie sind homozygot RR. Solche mit
weißen Blueten haben das Allel r fuer die weiße Faerbung und sind demnach
homozygot rr. Blumen mit je einem der beiden Allele, also mit der
heterozygoten Kombination Rr, sind rosa, weil sich die Farbanteile der
beiden Allele mischen.
Nur selten praegen Gene sich einfach aus,
indem ein einziges Gen ein einziges Merkmal bestimmt. Viele Gene steuern
mehrere Merkmale, und umgekehrt ist ein einzelnes Merkmal haeufig von vielen
Genen abhaengig. So sind z. B. mindestens zwei dominante Gene erforderlich,
damit bei der Gartenwicke das Pigment fuer dunkelrote Blueten entsteht. Die
Wirkung eines Gens haengt also unter Umstaenden auch davon ab, welche anderen
Gene vorhanden sind.
Quantitative Vererbung
Eigenschaften, die sich quantitativ
auspraegen, wie z. B. Gewicht, Koerpergroeße oder Staerke der Pigmentierung,
sind meist sowohl von vielen Genen als auch von Umwelteinfluessen abhaengig. Oft
sieht es so aus, als ob sich die Wirkungen mehrerer Gene addieren, d. h.,
jedes Gen scheint unabhaengig von den anderen Genen eine geringfuegige Zu- oder
Abnahme zu bewirken. Angenommen, die Groeße einer Pflanze wird von den vier
Genen A, B, C und D bestimmt, und Exemplare mit dem Genotyp aabbccdd
sind im Durchschnitt 25 Zentimeter hoch. Wenn man weiterhin unterstellt,
dass jeder Austausch gegen ein Paar dominanter Allele die Durchschnittsgroeße um
zehn Zentimeter wachsen laesst, ist eine Pflanze mit dem Genotyp AABBccdd
45 Zentimeter groß, und ein Exemplar mit der Allelkombination AABBCCDD
misst 65 Zentimeter. In der Praxis sind die Verhaeltnisse selten so
einfach. Die einzelnen Gene tragen zum Gesamtergebnis unterschiedlich viel bei,
und manche von ihnen treten untereinander so in Wechselwirkung, dass der
Beitrag des einen von der Anwesenheit des anderen abhaengt. Wenn quantitative
Merkmale von mehreren Genen bestimmt werden, spricht man von polygener
Vererbung.
Genkopplung und Genkartierung
Mendels Prinzip, wonach Gene, die
verschiedene Eigenschaften bestimmen, unabhaengig voneinander vererbt werden,
gilt nur dann, wenn diese Gene auf unterschiedlichen Chromosomen liegen. Der
amerikanische Genetiker Thomas Morgan und seine Mitarbeiter konnten in einer
umfangreichen Versuchsreihe an Essigfliegen (die sich schnell vermehren) zeigen,
dass die Gene auf einem Chromosom hintereinander aufgereiht sind und dass
solche Gene eines Chromosoms auch gemeinsam vererbt werden, solange das
Chromosom unversehrt bleibt. Gene, die in dieser Weise weitergegeben werden,
bezeichnet man als gekoppelt.
Wie Morgan und seine Kollegen aber ebenfalls
feststellten, ist die Kopplung kaum einmal vollstaendig. Bei manchen Nachkommen
werden die typischen Genkombinationen der Eltern durcheinandergewuerfelt. In der
Meiose koennen die Chromosomen eines homologen Paares Material austauschen – ein
Vorgang, den man Rekombination oder Crossing-over nennt. (Die
Wirkung des Crossing-over kann man im Mikroskop als X-foermige Verbindung
zwischen den beiden Chromosomen erkennen.) Das Crossing-over ereignet sich mehr
oder weniger zufaellig irgendwo auf der Laenge der Chromosomen. Die Haeufigkeit
der Rekombination zwischen zwei Genen haengt also von ihrem Abstand auf dem
Chromosom ab. Liegen sie relativ weit auseinander, werden sie haeufig
rekombiniert. Bei den Nachkommen, die aus solchen Gameten entstehen, zeigt sich
das Crossing-over als neue Kombination erkennbarer Merkmale. Je mehr
Rekombinationsereignisse stattfinden, desto groeßer ist der Anteil der
Nachkommen mit neuen Merkmalskombinationen. Deshalb kann man mit entsprechend
geplanten Kreuzungsexperimenten die Lageverhaeltnisse der Gene entlang des
Chromosoms ermitteln.
In den letzten Jahrzehnten hat man bei
Bakterien, einzelligen Pilzen, Viren und anderen Organismen, die in kurzer Zeit
eine Riesenzahl von Nachkommen hervorbringen, auch sehr seltene
Rekombinationsereignisse nachgewiesen. Damit konnte man Karten von Genen
aufstellen, die sehr dicht nebeneinander liegen. Die in Morgans Labor
entwickelte Methode wurde bis heute so weit verfeinert, dass man auch
Abweichungen innerhalb eines einzigen Gens kartieren kann. Wie solche Karten
gezeigt haben, liegen die Gene nicht nur linear hintereinander auf dem
Chromosom, sondern sie sind auch selbst lineare Gebilde. Mit Hilfe seltener
Rekombinanten kann man Strukturen aufspueren, die so klein sind, dass man sie
auch mit den leistungsfaehigsten Mikroskopen nicht erkennt.
Wie Untersuchungen an Pilzen und in juengster
Zeit auch an Essigfliegen gezeigt haben, kann Rekombination manchmal auch ohne
wechselseitigen Austausch zwischen den Chromosomen stattfinden. Wenn sich in
einer heterozygoten Zelle zwei unterschiedliche Formen des gleichen Gens
befinden, kann eine davon "korrigiert" werden, so dass sie der
anderen entspricht. Derartige Korrekturen gibt es in beiden Richtungen (das
Allel A kann z. B. zu a werden oder umgekehrt). Diesen
Vorgang nennt man Genkonversion. Gelegentlich machen auch mehrere
benachbarte Gene gemeinsam die Genkonversion durch. Die Wahrscheinlichkeit,
dass dies bei zwei bestimmten Genen geschieht, ist wiederum abhaengig von ihrem
Abstand. Damit hat man eine weitere Methode, um die Lageverhaeltnisse der Gene
auf den Chromosomen zu kartieren.
Geschlecht und Geschlechtskopplung
Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Genetik
leistete Morgan 1910: Er beobachtete Unterschiede in der Vererbung von
Merkmalen nach einem Prinzip, das man heute Geschlechtskopplung nennt.
Das Geschlecht wird in der Regel durch ein
einziges Chromosomenpaar bestimmt. Anomalien im endokrinen System und andere
Stoerungen koennen zwar die Auspraegung der sekundaeren Geschlechtsmerkmale
veraendern, aber sie fuehren fast nie zu einem voelligen Wechsel des Geschlechts.
Frauen besitzen 23 Chromosomenpaare, wobei die Chromosomen jedes Paares
sich sehr aehnlich sehen. Maenner besitzen 22 Paare solcher gleichartiger
Chromosomen; die beiden Chromosomen des 23. Paares sind in Groeße und
Aufbau sehr unterschiedlich. Die 22 Chromosomenpaare, die bei Maennern und
Frauen gleich sind, nennt man Autosomen, die beiden restlichen
bezeichnet man bei Maennern und Frauen als Geschlechtschromosomen. Die beiden
gleichartigen Geschlechtschromosomen der Frau sind die X-Chromosomen;
eines der maennlichen Geschlechtschromosomen ist ebenfalls ein X-Chromosom, aber
das andere, das viel kleiner ist, wird Y-Chromosom genannt. Wenn sich
die Gameten bilden, erhaelt jede Eizelle, welche die Frau produziert, ein
X-Chromosom, aber die Samenzellen des Mannes koennen entweder ein X- oder ein
Y-Chromosom enthalten. Vereinigt sich nun die Eizelle, die immer ein
X-Chromosom besitzt, mit einer Samenzelle, in der sich ebenfalls ein
X-Chromosom befindet, entsteht eine Zygote mit zwei X-Chromosomen: Das Kind
wird ein Maedchen. Traegt die befruchtende Samenzelle dagegen ein Y-Chromosom,
entsteht ein Junge. In abgewandelter Form findet man dieses Prinzip bei vielen
Tier- und Pflanzenarten.
Das menschliche Y-Chromosom hat etwa ein
Drittel der Laenge des X-Chromosoms und scheint, abgesehen von seiner Bedeutung
fuer die Bestimmung des maennlichen Geschlechts, genetisch nicht aktiv zu sein.
Die meisten Gene des X-Chromosoms haben also auf dem Y-Chromosom kein
Gegenstueck. Diese Gene, die man als geschlechtsgekoppelt bezeichnet,
werden nach einem charakteristischen Prinzip vererbt. Haemophilie
(Bluterkrankeit) wird z. B. meist durch ein geschlechtsgekoppeltes
rezessives Gen (h) hervorgerufen. Frauen mit dem Genotyp HH oder Hh
sind gesund. Nur der Genotyp hh fuehrt zur Krankheit. Maenner sind nie
heterozygot fuer dieses Gen, denn sie erben nur eine Kopie davon mit ihrem
X-Chromosom. Ein Mann mit H ist gesund; mit h entsteht die
Bluterkrankheit. Wenn ein gesunder Mann (H) und eine heterozygote Frau (Hh)
Kinder haben, sind die Toechter gesund, aber die Haelfte von ihnen traegt das Gen h:
Zwar hat keine von ihnen den Genotyp hh, aber die Haelfte ist heterozygot
Hh. Die Soehne erben nur das Gen H oder h; deshalb erkrankt
die Haelfte von ihnen an Haemophilie. Unter normalen Umstaenden gibt also eine
weibliche Genuebertraegerin die Krankheit an die Haelfte ihrer Soehne weiter, und
auch die Haelfte der Toechter erhaelt das rezessive Gen h, so dass diese
wiederum zu uebertraegerinnen fuer die Haemophilie werden. Auch viele andere
Stoerungen, so die Rotgruenblindheit, die erbliche Kurzsichtigkeit, die
Nachtblindheit und die Ichthyose (eine Hautkrankheit) sind, wie man heute weiß,
geschlechtsgekoppelt.
Genwirkung: DNA und der Code des Lebens
Noch 50 Jahre nachdem man die
Wissenschaft der Genetik gegruendet und die Gesetzmaeßigkeiten der Vererbung
durch Gene aufgeklaert hatte, blieben die wichtigsten Fragen unbeantwortet: Wie
werden die Chromosomen und ihre Gene vervielfaeltigt und von Zelle zu Zelle
weitergegeben, und wie steuern sie den Aufbau und das Verhalten der Lebewesen?
Auf einen der ersten wichtigen Hinweise stießen die amerikanischen Genetiker
George Wells Beadle und Edward Lawrie Tatum Anfang der vierziger Jahre. Bei
ihren Untersuchungen an den Pilzen Neurospora und Penicillium
stellten sie fest, dass Gene den Aufbau der Enzyme aus ihren chemischen
Bausteinen dirigieren. Jede derartige Molekueleinheit (ein Polypeptid) wird von
einem bestimmten Gen produziert. Diese Befunde loesten neue Untersuchungen zur
chemischen Natur der Gene aus und trugen dazu bei, dass sich das
Wissenschaftsgebiet der Molekulargenetik bildete.
Dass Chromosomen fast ausschließlich aus
zwei Arten chemischer Verbindungen aufgebaut sind, naemlich aus Proteinen und
Nucleinsaeuren, wusste man schon lange. Die enge Verbindung von Genen und
Enzymen (die Proteine sind) war einer der Gruende, warum man anfangs die
Proteine fuer die Grundsubstanz der Vererbung hielt. 1944 konnte der kanadische
Bakteriologe Oswald Theodore Avery jedoch nachweisen, dass in Wirklichkeit die
Desoxyribonucleinsaeure (DNA) diese Aufgabe erfuellt. Er reinigte die DNA aus
einem Bakterienstamm und schleuste sie in Bakterien eines anderen Stammes ein.
Damit erwarb dieser zweite Stamm nicht nur die Eigenschaften des ersten,
sondern er gab sie auch an die Nachkommen weiter. Damals wusste man bereits,
dass DNA aus jenen Molekuelbausteinen zusammengesetzt ist, die man Nucleotide
nennt. Jedes Nucleotid besteht aus einer Phosphatgruppe, einem Zucker namens
Desoxyribose und einer von vier stickstoffhaltigen Basen. Diese vier Basen
tragen die Namen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und
Cytosin (C).
1953 gelang es den Genetikern James Dewey
Watson aus den USA und Francis Harry Compton Crick aus Großbritannien, auf der
Grundlage aller bis dahin gewonnenen chemischen Erkenntnisse die Struktur der
DNA aufzuklaeren. Als man diese kannte, war auch sofort klar, wie die
Erbinformation vervielfaeltigt wird. Wie Watson und Crick herausfanden, besteht
das DNA-Molekuel aus zwei langen Straengen, und diese Straenge sind aehnlich wie
eine verdrehte Strickleiter in Form der beruehmten Doppelhelix umeinander
gewunden. Die beiden Straenge, sozusagen die Seile der Leiter, setzen sich aus
abwechselnd angeordneten Phosphat- und Zuckermolekuelen zusammen. Die
stickstoffhaltigen Basen bilden, paarweise angeordnet, die Leitersprossen. Jede
Base ist an eines der Zuckermolekuele gebunden und ueber Wasserstoffbruecken mit
einer komplementaeren Base im gegenueberliegenden Strang verknuepft. Adenin bindet
sich immer an Thymin, und Guanin verbindet sich stets mit Cytosin. Damit eine
neue, identische Kopie des Molekuels entsteht, brauchen die beiden Straenge sich
nur zu entwinden und zwischen den Basen (die nur schwach aneinander haften) zu
trennen: Wenn in der Zelle freie Nucleotide vorhanden sind, koennen sich nun mit
jedem der beiden Einzelstraenge neue komplementaere Basen verbinden, so dass zwei
Doppelhelices entstehen. Lautet die Abfolge (Sequenz) der Basen beispielsweise
in einem Strang AGATC, enthaelt der neue Strang die komplementaere oder
spiegelbildliche Sequenz TCTAG. Da jedes Chromosom ein einziges langes,
doppelstraengiges DNA-Molekuel enthaelt, bilden sich durch dieses Kopieren der
Doppelhelix auch zwei identische Chromosomen.
Die DNA ist erheblich laenger als ein
Chromosom und liegt darin in dicht verknaeuelter Form vor. Wie man heute weiß,
erfolgt dieses Verpacken mit Hilfe winziger Proteinpartikel, der Nucleosomen,
die man mit den staerksten Elektronenmikroskopen gerade noch erkennen kann. Die
DNA ist um die einzelnen Nucleosomen herumgewunden, so dass sich insgesamt eine
perlenkettenaehnliche Struktur ergibt. Diese Kette ist dann noch weiter
gefaltet, so dass die Perlen sich zu regelmaeßigen Spiralen zusammenlagern. Die
DNA ist also zu einer Art "Doppelwendel" gefaltet wie der Leuchtfaden
einer Gluehbirne.
Nach der Entdeckung von Watson und Crick
blieb die Frage offen, wie die DNA fuer die Entstehung der Proteine sorgt, jener
Verbindungen, die fuer alle Lebensvorgaenge entscheidend sind. Proteine sind
nicht nur die wichtigsten Bestandteile der meisten Strukturen in den Zellen,
sondern sie steuern auch praktisch alle chemischen Reaktionen, die in Lebewesen
ablaufen. Damit ein Protein als Strukturbaustein dienen oder als Enzym die
Geschwindigkeit einer bestimmten chemischen Reaktion beeinflussen kann, muessen
seine Molekuele eine charakteristische Form haben, und diese Form haengt
ihrerseits vom Aufbau des Proteins ab. Jedes Protein besteht aus einer oder
mehreren Untereinheiten, den Polypeptiden, und diese Molekuele sind aus
Bausteinen zusammengesetzt, die man Aminosaeuren nennt. In der Regel kommen in
den Polypeptiden 20 verschiedene Aminosaeuren vor. Zahl, Art und Reihenfolge der
Aminosaeuren in der Molekuelkette bestimmen letztlich ueber Struktur und Funktion
des Proteins, zu dem die Kette gehoert.
Der genetische Code
Nachdem man wusste, dass Proteine die
Produkte von Genen sind und dass jedes Gen einen Abschnitt eines DNA-Molekuels
darstellt, war auch klar, dass es einen genetischen Code geben muss, durch den
die Reihenfolge der Basen in den Nucleotiden der DNA die Reihenfolge der
Aminosaeuren in den Polypeptiden festlegt. Mit anderen Worten: Es musste einen
Vorgang geben, durch den die Nucleotide die Information zur Steuerung der
Proteinsynthese uebermitteln. Dieser Vorgang wuerde erklaeren, wie die Gene ueber
Form und Funktion der Zellen, Gewebe und Organismen bestimmen. Da in der DNA
nur vier Typen von Nucleotiden vorkommen, waehrend die Proteine aus 20
verschiedenen Aminosaeuren zusammengesetzt sind, konnte der genetische Code nicht
so aussehen, dass jeweils ein Nucleotid eine Aminosaeure festlegt. Auch
Kombinationen aus zwei Nucleotiden koennen hoechstens 16 (42 = 16)
Aminosaeuren codieren. Der Code musste also aus Einheiten von jeweils mindestens
drei Nucleotiden bestehen. Die Reihenfolge dieser Dreiergruppen, auch Tripletts
oder Codons genannt, konnte die Anordnung der Aminosaeuren im Polypeptid
bestimmen.
Zehn Jahre nachdem Watson und Crick die
DNA-Struktur beschrieben hatten, war der genetische Code aufgeklaert und
wissenschaftlich bewiesen. Diesen Erfolg erreichte man u. a. durch die
intensive Erforschung von Nucleinsaeuren eines anderen Typs, der
Ribonucleinsaeuren (RNA). Wie sich naemlich herausstellte, steuert die DNA das
Zusammensetzen der Polypeptide indirekt ueber Botenmolekuele, die man Messenger-RNA
(mRNA) nannte (englisch messenger: Bote). Ein Abschnitt der DNA
windet sich auseinander, und die beiden Straenge trennen sich in diesem
Teilstueck. Einer davon dient als Matrize fuer die Bildung der mRNA (bei der ein
Enzym namens RNA-Polymerase mitwirkt). Der Vorgang aehnelt stark der Synthese
des komplementaeren DNA-Stranges bei der Verdoppelung der Doppelhelix; die RNA
enthaelt jedoch anstelle des Thymins das Uracil (U) als eine ihrer vier
Basen, und das Uracil (das chemisch dem Thymin sehr aehnlich ist), verbindet
sich bei der Ausbildung der komplementaeren Basenpaare mit Adenin. Die Sequenz
Adenin-Guanin-Adenin-Thymin-Cytosin (AGATC) im codierenden Strang der DNA laesst
also in der mRNA die Sequenz Uracil-Cytosin-Uracil-Adenin-Guanin (UCUAG) entstehen.
Transkription
Die Synthese eines Messenger-RNA-Molekuels an
einer bestimmten DNA-Sequenz nennt man Transkription. Noch bevor sie
beendet ist, loest sich der Anfang jeder mRNA von der DNA. Ein Ende des langen,
duennen mRNA-Molekuels wird in ein Ribosom "eingefaedelt", ein kleines
Koerperchen im Cytoplasma, das nun auf der mRNA sitzt wie eine Perle auf dem
Faden. Wenn sich die Ribosomen-"Perle" am RNA-Faden entlangbewegt,
kann an dessen Anfang ein zweites Ribosom aufspringen usw. Mit einem sehr
leistungsfaehigen Mikroskop und besonderen Faerbemethoden kann man solche
mRNA-Molekuele mit den daranhaengenden Ribosomen photographieren.
Ribosomen bestehen aus Proteinen und RNA.
Eine Gruppe von Ribosomen, die durch die mRNA verbunden sind, nennt man Polyribosom
oder Polysom. Waehrend ein Ribosom an der mRNA entlanglaeuft, liest es den
Code ab, also die Sequenz der Basen in den Nucleotiden der mRNA. Bei diesem
Ablesen, Translation genannt, wirkt ein dritter Typ von RNA-Molekuelen
mit, die Transfer-RNA (tRNA), die an einem anderen Abschnitt der DNA gebildet
wird. Auf einer Seite jedes tRNA-Molekuels befindet sich eine Stelle, an die
sich eine Aminosaeure anheften kann. Auf der anderen liegt ein
Nucleotidtriplett, das zu einer anderen Nucleotid-Dreiergruppe (dem Codon) in
der mRNA komplementaer ist. Deshalb kann das Triplett der tRNA (das man auch Anticodon
nennt) das Codon in der mRNA erkennen und sich daran festheften. Die Sequenz
Uracil-Cytosin-Uracil (UCU) in der mRNA zieht beispielsweise das Anticodon
Adenin-Guanin-Adenin (AGA) in der tRNA an.
Jedes der tRNA-Molekuele, die sich auf dem
Ribosom an die mRNA heften, traegt eine Aminosaeure. Die Sequenz der Codons in
der mRNA bestimmt also, in welcher Reihenfolge die Aminosaeuren von der tRNA zum
Ribosom transportiert werden. Am Ribosom werden die Aminosaeuren dann chemisch
zu einer Kette verknuepft, so dass ein Polypeptid entsteht. Wenn die neue
Molekuelkette fertig ist, loest sie sich vom Ribosom und faltet sich zu einer
charakteristischen Form, die durch die Aminosaeurensequenz vorgegeben ist. Die
Form eines Polypeptids und seine elektrischen Eigenschaften, die ebenfalls
durch die Reihenfolge der Aminosaeuren bestimmt sind, sorgen einerseits dafuer,
dass es entweder ein Einzelmolekuel bleibt oder sich mit anderen Polypeptiden
verbindet, und andererseits versetzen sie es in die Lage, innerhalb des
Organismus eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfuellen.
Bei Bakterien und Viren liegt das Chromosom
frei im Cytoplasma; bei diesen Lebewesen beginnt die Translation haeufig schon,
bevor die Transkription (d. h. die mRNA-Synthese) abgeschlossen ist. In
den Zellen hoeherer Organismen liegen die Chromosomen jedoch abgegrenzt im
Zellkern, waehrend sich die Ribosomen ausschließlich im Cytoplasma befinden.
Hier kann die Translation der mRNA in Protein erst stattfinden, nachdem die RNA
sich von der DNA geloest hat und ins Cytoplasma gewandert ist.
Introns
Ende der siebziger Jahre machte man die
unerwartete Entdeckung, dass die Gene hoeherer Organismen nicht fortlaufend
aneinandergereiht sind. In vielen Faellen ist eine Nucleotidsequenz, die ein
Polypeptid codiert, ein- oder mehrmals von nichtcodierenden Sequenzen
unterbrochen. Manche Gene enthalten ueber 50 derartige Zwischensequenzen, die
man auch Introns nennt. Bei der Transkription werden die Introns
zusammen mit den codierenden Sequenzen in RNA umgeschrieben, so dass besonders
große RNA-Molekuele entstehen. Anschließend werden die Abschnitte, die den
Introns entsprechen, von besonderen Enzymen im Zellkern sehr exakt aus der RNA
herausgeschnitten. So entsteht schließlich die mRNA, die ins Cytoplasma
transportiert wird.
Ob die Introns eine Funktion haben und wenn
ja, welche, weiß man nicht; es gibt allerdings Vermutungen, die
Weiterverarbeitung der RNA mit dem Herausschneiden der Zwischensequenzen koenne
dazu beitragen, die Menge des an dem Gen gebildeten Polypeptids zu regulieren.
Introns hat man auch in Genen gefunden, die besondere RNA-Molekuele codieren,
z .B. die RNA-Bestandteile der Ribosomen.
Sequenzwiederholungen
Wie sich bei eingehenden Untersuchungen der
DNA ebenfalls herausstellte, kommen bei hoeheren Organismen manche
Nucleotidsequenzen vielfach wiederholt ueberall im genetischen Material vor.
Manche dieser Sequenzwiederholungen sind mehrfache Kopien von Genen, die
Polypeptide oder besondere RNA-Typen codieren. So liegen z. B. die Gene,
welche die RNA-Bestandteile der Ribosomen codieren, fast immer in vielen Kopien
vor. Andere Sequenzwiederholungen codieren offenbar weder Polypeptide noch RNA;
ihre Funktion kennt man nicht. Manche dieser Sequenzen koennen innerhalb eines
Chromosoms oder zwischen den Chromosomen von einer Stelle zur anderen springen.
Solche Transposons oder transponierbaren Elemente koennen in Genen, die in der
Naehe ihrer Ausgangs- oder Zielstelle liegen, Mutationen hervorrufen (siehe
unten).
Genregulation
Nachdem man wusste, wie Proteine hergestellt
werden, konnte man auch verstehen, wie Gene gezielt Wirkungen auf Struktur und
Funktion eines Organismus ausueben. Damit ist aber noch nicht erklaert, wie
Lebewesen sich an wechselnde Umweltbedingungen anpassen oder wie eine einzige
Zygote all die verschiedenen Gewebe und Organe hervorbringt, die einen Menschen
ausmachen. Die meisten Zellen in diesen Geweben und Organen enthalten genau die
gleiche Genausstattung – und dennoch produzieren sie unterschiedliche Proteine.
Offensichtlich sind in den Zellen jedes Gewebes und Organs einige Gene aktiv,
waehrend andere ruhen. In den einzelnen Geweben ist jeweils eine andere
Kombination von Genen aktiv. Die Erklaerung fuer die Entwicklung eines
kompliziert gebauten Lebewesens muss also zum Teil in der Art liegen, wie Gene
gezielt aktiviert werden.
Bei hoeheren Organismen sind die Mechanismen
der Genaktivierung bis heute nicht vollstaendig aufgeklaert, aber ueber die
entsprechenden Vorgaenge bei Bakterien weiß man durch die Arbeiten der
franzoesischen Genetiker François Jacob und Jacques Lucien Monod eine ganze
Menge. Neben fast jedem Bakteriengen liegt ein DNA-Abschnitt, den man als Promotor
bezeichnet. Dort heftet sich die RNA-Polymerase, das Enzym fuer die Synthese der
RNA, an die DNA und beginnt mit der Transkription. Zwischen Promotor und Gen
liegt oft noch ein weiterer Abschnitt, der Operator, an den sich ein
anderes Protein (der Repressor) anlagern kann. Wenn der Repressor an den
Operator gebunden ist, hindert er die RNA-Polymerase daran, an der DNA
entlangzuwandern und RNA zu produzieren; deshalb ist das Gen inaktiv. Bestimmte
chemische Substanzen in der Zelle koennen aber dafuer sorgen, dass der Repressor
sich von der DNA loest, so dass das Gen aktiv wird. Andere Stoffe koennen das
Ausmaß der Genaktivitaet beeinflussen, indem sie die Faehigkeit der
RNA-Polymerase zur Bindung an den Promotor veraendern. Das Repressorprotein wird
von einem Gen gebildet, das man Regulator nennt.
Bei Bakterien werden haeufig mehrere Gene
gleichzeitig von einem Promotor und von einem oder mehreren Operatoren
reguliert. Ein solches System heißt Operon. In komplizierter gebauten
Lebewesen kommen Operons offensichtlich nicht vor; hier hat
hoechstwahrscheinlich jedes Gen sein eigenes System von Promotoren und
Operatoren; auch Introns und Sequenzwiederholungen duerften eine Rolle spielen.
Cytoplasmatische Vererbung
Nicht nur der Zellkern, sondern auch manche
anderen Bestandteile der Zelle enthalten DNA, insbesondere die Mitochondrien,
kleine Koerperchen im Cytoplasma, die der Energieproduktion dienen, sowie die
Chloroplasten der Pflanzen, in denen die Photosynthese stattfindet. Diese
Gebilde pflanzen sich selbst fort. Ihre DNA verdoppelt sich aehnlich wie die im
Zellkern, und sie enthaelt auch Gene, die transkribiert und in Proteine
translatiert werden. 1981 hat man die gesamte Nucleotidsequenz in der DNA eines
Mitochondriums ermittelt; ihr genetischer Code unterscheidet sich geringfuegig
von dem im Zellkern.
Die Eigenschaften, die in der
cytoplasmatischen DNA codiert sind, werden vielfach eher von der Mutter als vom
Vater weitervererbt (beim Menschen sogar ausschließlich von der Mutter), weil
Samenzellen und Pollen meist weniger Cytoplasma enthalten als die Eizelle. In
manchen Faellen war eine scheinbar muetterliche Vererbung aber auf Viren
zurueckzufuehren, die ueber das Cytoplasma der Eizelle von der Mutter auf die
Nachkommen weitergegeben wurde.
Mutationen
Die Verdoppelung der DNA laeuft zwar sehr
praezise ab, aber voellig fehlerfrei ist sie nicht. Gelegentlich schleichen sich
Fehler ein, so dass der neu gebildete DNA- Abschnitt veraenderte Nucleotide
enthaelt. Solche Fehler, Mutationen genannt, koennen an jeder Stelle in
der DNA auftreten. Geschieht das in einer Nucleotidsequenz, die ein bestimmtes
Polypeptid codiert, kann sich in diesem Molekuel eine Aminosaeure veraendern, und
durch einen solchen Wechsel koennen sich die Eigenschaften des betreffenden
Proteins tief greifend wandeln. So unterscheiden sich z. B. die Haemoglobinmolekuele bei gesunden Menschen
und bei Personen mit Sichelzellenanaemie nur in einer einzigen Aminosaeure. Tritt
bei der Entstehung der Gameten eine Mutation auf, wird sie an die folgenden
Generationen weitergegeben.
Genmutationen
Die ersten Berichte ueber Mutationen stammen
aus dem Jahre 1901 von dem niederlaendischen Botaniker Hugo De Vries, einem der
Wiederentdecker Mendels. Im Jahre 1929 stellte der amerikanische Biologe
Hermann Joseph Muller fest, dass man die Mutationshaeufigkeit durch Behandlung
mit Roentgenstrahlen stark steigern kann. Wie sich spaeter herausstellte, koennen
auch andere Arten von Strahlung sowie hohe Temperaturen und verschiedene
Chemikalien Mutationen ausloesen. Ebenso steigt die Mutationshaeufigkeit, wenn
manche Gene (Mutator-Gene genannt) in Form bestimmter Allele vorliegen. Diese
Allele verursachen offenbar in einigen Faellen Fehler in den Mechanismen, die
fuer die Genauigkeit der DNA-Verdoppelung verantwortlich sind. Bei anderen
handelt es sich moeglicherweise um Transposons (siehe oben).
Die meisten Genmutationen sind fuer das betroffene
Lebewesen schaedlich, denn die Funktion komplexer Systeme wie z. B. eines
Proteins wird durch Zufallsveraenderungen eher beeintraechtigt als verbessert.
Die Zahl der Individuen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes
mutiertes Gen tragen, wird also von zwei entgegengesetzten Kraeften bestimmt:
Die Fortpflanzung von Individuen mit einer neuen Mutation laesst sie ansteigen –
und da diese mutierten Individuen in der Regel weniger gut als ihre
nichtmutierten Artgenossen in der Lage sind, zu ueberleben und sich zu
vermehren, nimmt sie andererseits ab. In juengerer Zeit haben menschliche
Aktivitaeten wie die medizinische Verwendung von Roentgenstrahlen sowie der
Einsatz radioaktiven Materials und mutationsausloesender Chemikalien dazu
beigetragen, dass die Zahl der Mutanten gestiegen ist.
Mutationen sind in der Regel rezessiv, so
dass ihre schaedliche Wirkung nur dann zum Tragen kommt, wenn zwei von ihnen in
homozygoter Form zusammentreffen. Das geschieht am leichtesten durch Inzucht,
die Paarung eng verwandter Lebewesen, die moeglicherweise von einem gemeinsamen
Vorfahren das gleiche Gen mit der rezessiven Mutation geerbt haben. Deshalb
treten genetisch bedingte Erkrankungen bei Kindern, deren Eltern Cousin und
Cousine sind, haeufiger auf als in der Gesamtbevoelkerung.
Chromosomenmutationen
Der Austausch eines Nucleotids gegen ein
anderes ist nicht die einzige Art von Mutationen. Manchmal geht ein Nucleotid
auch voellig verloren, oder es kommt eines hinzu. Darueber hinaus sind auch
groeßere, deutlich zu erkennende Umordnungen in der DNA moeglich, und manchmal
aendern sich sogar Form und Zahl der Chromosomen. Ein Chromosomenabschnitt kann
sich z. B. abspalten, umdrehen und sich verkehrt herum an derselben Stelle
wieder anheften. Eine solche Veraenderung nennt man Inversion. Verbindet
sich der abgebrochene Abschnitt mit einem anderen Chromosom oder mit einer
anderen Stelle des urspruenglichen Chromosoms, spricht man von einer Translokation.
Manchmal geht ein Stueck eines Chromosoms in einem homologen Paar verloren und
wird von dem anderen Chromosom des Paares "eingefangen". Dann sagt
man, das eine Chromosom habe eine Defizienz und das andere eine Duplikation.
Defizienzen sind im homozygoten Zustand in der Regel toedlich, und das Gleiche
gilt oft auch fuer Duplikationen. Organismen mit Inversionen und Translokationen
sind in einem groeßeren Teil der Faelle lebensfaehig. Die meisten derartigen
Chromosomenumordnungen sind vermutlich die Folge von Fehlern beim
Crossing-over.
Mutationen eines anderen Typs treten auf,
wenn sich die beiden Chromosomen eines homologen Paares in der Meiose nicht
trennen; in einem solchen Fall entstehen Gameten – und damit auch Zygoten – mit
ueberzaehligen oder fehlenden Chromosomen. Bei ueberzaehligen Chromosomen spricht
man von Trisomie, den Zustand eines fehlenden Chromosoms nennt man Monosomie.
Beim Menschen verlaufen beide Defekte in den meisten Faellen toedlich. Wenn die
Betroffenen ueberleben, leiden sie an schweren Behinderungen. Das Down-Syndrom
hat seine Ursache z. B. in einer Trisomie, bei der das Chromosom
Nummer 21 in drei Kopien vorliegt.
Manchmal trennt sich in der Meiose der
gesamte Chromosomensatz nicht, so dass eine Gamete mit dem Doppelten der
normalen Chromosomenzahl entsteht. Vereinigt sich eine solche Keimzelle mit
einer zweiten, welche den normalen Chromosomensatz traegt, besitzen die
Nachkommen nicht zwei, sondern drei homologe Exemplare von jedem Chromosom.
Diesen Zustand mit mehreren Chromosomensaetzen nennt man Polyploidie. Sie
ist der einzige bekannte Mechanismus, durch den in einer einzigen Generation
neue biologische Arten entstehen koennen. Lebensfaehige, fruchtbare polyploide
Organismen findet man fast ausschließlich bei zwittrigen Arten, z. B. bei
den meisten Bluetenpflanzen und manchen wirbellosen Tieren. Polyploide Pflanzen
sind in der Regel groeßer und widerstandsfaehiger als ihre normalen, diploiden
Vorfahren. Auch beim Menschen kommen manchmal polyploide Feten vor, aber sie
sterben schon in einem fruehen Stadium der Schwangerschaft und werden als
Fehlgeburt abgestoßen.
Gene in Populationen
Die Populationsgenetik, die sich mit der
Ausbreitung der Gene in Populationen von Lebewesen beschaeftigt, erhielt ihre
solide wissenschaftliche Grundlage durch die Arbeiten des englischen
Mathematikers Godfrey H. Hardy und des deutschen Frauenarztes Wilhelm
Weinberg. Sie formulierten 1908 unabhaengig voneinander ein Prinzip, das heute
unter dem Namen Hardy-Weinberg-Gesetz bekannt ist. Es besagt folgendes: Wenn
ein Gen auf einem Autosom in einer Population in zwei Allelen (A und a)
vorkommt, wobei die Haeufigkeit ihres Auftretens (dezimal ausgedrueckt) p
und q betraegt (p + q = 1), und wenn
zudem die Paarung zwischen den Individuen im Hinblick auf dieses Gen zufaellig
erfolgt, dann treten die Genotypen AA, Aa und aa nach einer
Generation mit den Haeufigkeiten p2, 2pq, und q2 auf.
Anschließend bleiben diese Haeufigkeiten von Generation zu Generation konstant,
solange keine Stoerungen auftreten. Jede aenderung, die auf
entwicklungsgeschichtlichen Wandel hinweist, muss also auf Stoerungen
zurueckgehen. Solche Stoerungen sind z. B. Mutationen, natuerliche Selektion,
Populationswanderungen und Paarungen innerhalb sehr kleiner Populationen, bei
denen bestimmte Allele zufaellig verloren gehen, sowie Gendrift.
Vielen Hinweisen zufolge sind die meisten
Populationen genetisch weitaus variabler, als man zunaechst angenommen hatte.
Wie man aus Untersuchungen an den Polypeptidprodukten der Gene weiß, ist die
Haeufigkeit der genetischen Varianten bei einem Drittel von ihnen hoeher, als man
es aufgrund des Gleichgewichts zwischen ihrer Entstehung durch Mutationen und
dem Selektionsnachteil der Mutanten erwarten sollte. Das fuehrte zu einem
erheblichen Interesse an der Frage, wie unterschiedliche Allele aktiv im
Gleichgewicht gehalten werden, so dass keines von ihnen das andere verdraengt. Ein
solcher Ausgleichsmechanismus besteht darin, dass heterozygote Individuen
haeufig besser lebensfaehig sind als homozygote. Ein weiterer Mechanismus,
frequenzabhaengige Selektion genannt, beruht auf dem relativen
ueberlebensvorteil seltener Varianten, beispielsweise in Populationen, die von
natuerlichen Feinden dezimiert werden. Feinde konzentrieren sich oft auf die
haeufigste Variante und beachten seltenere Formen nicht. Eine Abweichung kann
also vorteilhaft sein, solange sie selten ist, aber sie verliert diese
bevorzugte Stellung, wenn ihre Verbreitung durch die natuerliche Selektion
zunimmt. Jetzt toeten die natuerlichen Feinde auch die zuvor beguenstigte
Variante, bis sich in der Population zumindest ein Gleichgewicht zwischen den
Allelen einstellt. aehnlich wirken haeufig auch Parasiten: Sie spezialisieren
sich jeweils auf die haeufigste Variante ihres Wirtsorganismus und sorgen so fuer
die Aufrechterhaltung der genetischen Vielfalt in den Populationen dieser Art.
Vererbung beim Menschen
Die meisten koerperlichen Eigenschaften der
Menschen werden sowohl von mehreren genetischen Faktoren als auch von der
Umwelt beeinflusst. Bei manchen Merkmalen, z. B. bei der Koerpergroeße, ist
der genetische Anteil relativ hoch. Andere, so das Koerpergewicht, werden zu
einem großen Teil von der Umwelt bestimmt. Wieder andere Merkmale,
beispielsweise Blutgruppen sowie Antigene, die fuer die Abstoßung verpflanzter
Organe verantwortlich sind, beruhen offenbar ausschließlich auf genetischen
Faktoren: Man kennt keinen Umwelteinfluss, durch den sich diese Eigenschaften
aendern koennten. Die Transplantationsantigene hat man in juengerer Zeit besonders
eingehend untersucht, weil sie medizinisch von großem Interesse sind. Die
wichtigsten derartigen Proteine werden von einer Gruppe gekoppelter Gene produziert,
die unter dem Namen HLA-Komplex bekannt ist. Diese Gene bestimmen nicht nur
darueber, ob der Organismus ein transplantiertes Organ annimmt oder abstoeßt,
sondern sie spielen auch fuer die Abwehrkraefte des Koerpers gegenueber
verschiedenen Krankheiten eine Rolle (z. B. gegen Allergien, Diabetes und
Arthritis).
Auch die Anfaelligkeit fuer andere Krankheiten
hat einen wichtigen genetischen Anteil. Zu diesen Krankheiten gehoeren
Schizophrenie, Tuberkulose, Malaria, mehrere Arten von Krebs, Migraene und Bluthochdruck.
Viele seltene Krankheiten entstehen durch rezessive Gene, und einige werden
auch von dominanten Genen verursacht.
Die Identifizierung und Untersuchung von
Genen ist einerseits von großem Interesse fuer Biologen, andererseits ist sie
aber auch medizinisch bedeutsam, wenn ein bestimmtes Gen mit einer Krankheit zu
tun hat. Das menschliche Genom umfasst etwa 50 000 bis
100 000 Gene, und ungefaehr 4 000 davon koennten zu Krankheiten
beitragen. Mit einem weltweiten Forschungsprogramm, dem Human-Genom-Projekt,
versucht man seit 1990, das gesamte Erbmaterial des Menschen zu analysieren.
Mit diesem Vorhaben verfolgt man vor allem das Ziel, verschiedene Karten des
Genoms zu erstellen und seine gesamte Nucleotidsequenz zu ermitteln. aeußerst
nuetzlich sind dabei die neuen Methoden zur Klonierung großer DNA-Abschnitte fuer
die weitere Analyse sowie die Automatisierung von Verfahren wie der
DNA-Sequenzanalyse.